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Sifan Hassan schreibt mit Marathon-Olympiasieg Sportgeschichte

Julia Mayer kämpft sich in Paris auf Rang 55.

Sifan Hassan hat mit einem sensationellen Sieg in einem der dramatischsten Marathon-Rennen der Olympischen Spiele Sportgeschichte geschrieben. Die aus Äthiopien stammende Niederländerin gewann das Rennen nach einer Spurt-Entscheidung in der olympischen Rekordzeit von 2:22:55 Stunden vor der äthiopischen Weltrekordlerin Tigst Assefa (2:22:58) und der Kenianerin Helen Obiri (2:23:10).

Drei Langstrecken-Medaillen in Paris

Sifan Hassan hat als erste Frau in der Geschichte bei Olympischen Spielen Medaillen in allen drei Langstrecken gewonnen. Über 5.000 und 10.000 m war sie zuvor jeweils Dritte. Nur ein anderer Läufer hat bei Olympia zuvor in diesen drei Disziplinen Medaillen gewonnen: 1952 lief der legendäre Tscheche Emil Zatopek sogar zu drei Goldmedaillen, was sicherlich einmalig bleiben wird. 

„Was Sifan Hassan hier in Paris geleistet hat, ist schwer in Worte zu fassen. Überhaupt während einer Karriere olympische Medaillen über 5.000 und 10.000 Meter sowie im Marathon zu gewinnen, ist schon sehr außergewöhnlich - aber sie hat dies hier in Paris (in einer Woche) geschafft. Ich glaube, das wird keine andere Läuferin mehr erreichen können in der Zukunft“, sagte die frühere britische Marathon-Weltrekordlerin Paula Radcliffe, die das Rennen für die BBC kommentierte. 

Nur 36 Stunden vor dem Marathonstart hatte Hassan am Freitag abends Bronze über 10.000 m im Stade de France geholt. Zuvor gewann sie am Montag, 5. August ebenfalls die Bronzemedaille über 5.000 m, nachdem sie am Freitag, 2. August den Vorlauf bestritten hatte. Die Woche vor einem Marathon sieht üblicherweise ganz anders aus. Hassan muss ein Lauf- und Regenerationswunder sein. 

Packendes Rennen, heißes Finish

Nur 800 Meter vor dem Ziel hatten noch vier Läuferinnen um den Olympiasieg gekämpft. Kenias Titelverteidigerin Peres Jepchirchir wurde in dem Rennen 15. in 2:26:51.

Die Temperaturen stiegen etwas schneller an als beim Männer-Marathon am Vortag. Die Luftfeuchtigkeit war niedriger. Mit 18°C beim Start, bis zu 27°C im Ziel und direkter Sonneneinstrahlung war es kein extremes Hitzerennen, aber natürlich alles andere als einfach.

Die Atmosphäre, die Kulisse, die Dramatik – es war ein Marathon-Highlight der Extraklasse mit herausragender sportlicher Qualität.

Julia Mayer: „Das Allerbeste, das ich je gemacht habe“

Auf der hügeligen, schweren Strecke schaffte es Österreichs Rekordhalterin Julia Mayer bei ihrer Olympiapremiere in 2:35:14 Stunden auf den 55. Platz. Nach zurückhaltendem Beginn konnte sie bis ins Ziel einige Läuferinnen überholen und auch von der Aufgabe mehrerer zu schnell gestarteter Athletinnen profitieren. Von Rang 85 unter 91 gestarteten Läuferinnen nach 5 Kilometern machte sie bis ins Ziel 30 Plätze gut. Ihr zeitlicher Abstand zu den Podiumsläuferinnen entspricht in etwa dem Abstand der persönlichen Bestzeiten. In einem extrem leistungsstarken und dichten Feld hat Julia Mayer ihre Erwartungen erfüllt, ihren Rennplan umgesetzt und dabei große Freude verspürt. 

Im Gespräch mit dem ORF zeigte sie sich emotional bewegt und hochzufrieden: „Es war definitiv das Allerbeste, das ich je gemacht habe. Ich bin extrem überwältigt von den Emotionen. Ich habe genau das gemacht, was ich mir vorgenommen habe. Mein Ziel war einfach, dass ich von Entry List ein paar Plätze nach vorne mache. Ich wollte heute abrufen, was ich kann. Das habe ich definitiv gemacht. Ich habe meinen Körper extrem gespürt und alles richtig eingeschätzt. Ich werde weiterarbeiten. Ich hoffe, dass ich in vier Jahren die Möglichkeit habe, mit den allerbesten europäischen Läuferinnen vorne mitzulaufen. Ich habe jetzt vier Jahre Laufsport in den Beinen und möchte wirklich eine der allerbesten werden. Mit Platz 55 hätte ich nie gerechnet, auch nicht mit der Zeit auf der Strecke. Ich bin extrem stolz, ich habe komplette Emotionen auf der Strecke aufgesaugt, habe so viele Leute auf der Seite abgeklatscht, es war komplett geil. Die ersten 2 Kilometer waren sehr emotional. Da ist es so abgegangen an der Strecke, da habe ich mich sammeln und fokussieren müssen. Ab Kilometer 30, nach der zweiten Steigung, habe ich alles zugelassen, die Zuschauer, habe die Emotionen mitgenommen. 
Ich habe eine Neuseeländerin und eine Finnin hinter mir lassen können, die bergab zu kämpfen hatten. Es war extrem wichtig, dass wir uns speziell vorbereitet haben. Mein Trainer hat in der spezifischen Vorbereitung alles richtig gemacht.“

Österreichs Teilnehmerinnen bei Olympiamarathons bisher:

•    Julia Mayer 2:35:14 - Paris 2024 - 55. Platz (80 im Ziel, 91 gestartet)
•    Andrea Mayr 2:41:52 – Rio 2016 – 64. Platz (133 im Ziel, 157 gestartet)
•    Andrea Mayr 2:34:51 – London 2012 – 53. Platz (103 im Ziel, 118 gestartet)
•    Eva-Maria Gradwohl 2:44:24 – Beijing 2008 – 57. Platz (69 im Ziel, 82 gestartet)

Europäische Top-Läuferinnen mit beachtlichen Auftritten

Sehr starke Auftritte von europäischen Läufern gab es u.a. von der Schweizerin Fabienne Schlumpf, der VCM-Zweiten von 2021, auf Rang 16 in 2:28:10, und der Belgierin Hanne Verbruggen auf Rang 19 in 2:29:03. 

Domenika Mayer war als 29. in 2:30:14 die beste deutsche Läuferin. Laura Hottenrott lief auf Platz 38 in 2:31:19. Deren Landsfrau Melat Kejeta, die Olympia-Sechste von Sapporo (2021), gab das Rennen nach rund 18 Kilometern auf.

Generell war die Einlaufdichte im Bereich von 2:29 bis 2:31 sehr hoch. 25 Läuferinnen schafften die fordernde Strecke unter 2:30 Stunden, 40 Läuferinnen blieben unter 2:32. Jedenfalls an der Spitze gelang es den Athletinnen, einen “negative Split” zu laufen, d.h. die zweite Streckenhälfte schneller als die erste zurückzulegen. 

Das war der Weg zum Olympiasieg

Nach einem verhaltenen Anfang mit einer 10-km-Zwischenzeit von 34:32 Minuten setzte sich bereits zwischen Kilometer 12 und 13 eine Gruppe vom Feld ab, in der alle großen Favoritinnen liefen. Nach dem ersten von zwei langen Anstiegen, lief die Australierin Jessica Stenson in 73:22 Minuten über die Halbmarathon-Marke. Unmittelbar hinter ihr folgte eine Gruppe von 19 Athletinnen. Julia Mayer passierte diesen Punkt nach 77:23 Minuten auf Rang 74. 

Verschärfung im zweiten Anstieg

Kurz vor dem zweiten, langen und am Ende steilen Anstieg machten dann die Äthiopierinnen Tigst Assefa, die im vergangenen Jahr den Berlin-Marathon in der Weltrekordzeit von 2:11:53 gewonnen hatte, und Amane Beriso Shankule, die 2023 den WM-Titel gewonnen hatte, Tempo. Dadurch fiel die große Spitzengruppe auseinander. Bei Kilometer 29, am Ende des steilen Anstieges, lagen neben den beiden Äthiopierinnen nur noch Kenias Titelverteidigerin Peres Jepchirchir und ihre Landsfrau Sharon Lokedi an der Spitze. Doch Helen Obiri und Sifan Hassan konnten auf dem anschließenden Bergab-Stück wie unter anderen auch die Japanerin Yuka Suzuki die Lücke wieder schließen. Knapp zehn Kilometer vor dem Ziel fiel eine erste große Favoritin aus der Gruppe: Überraschend war es Peres Jepchirchir, die bald darauf so weit zurück lag, dass sie keine Chance mehr auf eine Medaille hatte.

Finale mit den absoluten Topläuferinnen

Gut sechs Kilometer vor dem Ziel waren es wieder Assefa und Shankule, die das Tempo anzogen. Daraufhin reduzierte sich die Gruppe auf fünf Läuferinnen. Lokedi, Obiri und Hassan liefen hinter den Äthiopierinnen. Das Quintett war auch zwei Kilometer vor dem Ziel noch zusammen - ein solches olympisches Marathon-Finale gab es noch nie. Nach 40,5 km fiel Shankule zurück, 600 Meter vor dem Ziel dann Lokedi und schließlich auch die Boston-Marathon-Siegerin Obiri. Tigst Assefa zog dann den Spurt an, doch sie wurde Sifan Hassan nicht los. Die Niederländerin schob sich in einer Kurve innen vorbei, rempelte dabei Assefa leicht und stürmte zum größten Sieg ihrer Karriere.

Hassan: “Wie ist das möglich?”

„Als ich ins Ziel lief, war es ein Moment der Erleichterung, es war unglaublich. Ich habe nie so etwas erlebt. Ich dachte, ich bin Olympiasiegerin - aber wie ist das möglich“, sagte Sifan Hassan, die nur eineinhalb Tage zuvor das 10.000-m-Finale gelaufen war. ‘Wie ist das möglich’ - diese Frage stellten sie wohl viele Fans und Beobachter. Vor drei Jahren bei Olympia in Tokio hatte sie bereits Sportgeschichte geschrieben. Damals siegte sie über 5.000 sowie 10.000 m und gewann über 1.500 m noch eine Bronzemedaille. Aber dieses einmalige Medaillen-Trio hat sie jetzt selbst in Paris noch übertrumpft.

Sogar Angriff auf 2:09 scheint möglich

„Während des Rennens habe ich bereut, die 5.000 und 10.000 Meter gelaufen zu sein. Ich sagte mir, ich würde mich jetzt gut fühlen. So aber war es von Beginn bis zum Ende extrem hart“, sagte Sifan Hassan, die als 15-Jährige aus Äthiopien nach Holland geflüchtet war und dort dann mit dem Laufsport begann. „Nach 20 Kilometern habe ich mich besser gefühlt - dann wollte ich gewinnen. Aber die anderen waren alle frisch. Ich habe immer darauf gewartet, dass sie einbrechen, aber sie waren stark“, sagte Sifan Hassan, die vor knapp einem Jahr den Chicago-Marathon in der Europarekordzeit von 2:13:44 Stunden gewonnen hatte und damit die zweitschnellste Läuferin aller Zeiten ist. Nach dieser Leistung bei Olympia ist auch nicht mehr ausgeschlossen, dass Sifan Hassan versuchen könnte, als erste Frau eine Marathon-Zeit von unter 2:10:00 Stunden zu erreichen.

Deutsche Läuferinnen mit 2:30 und 2:31: “Platzierung nicht so wie erwartet”

Angesichts der natürlich enorm starken Konkurrenz hielten sich Domenika Mayer und Laura Hottenrott recht gut bei ihrer Olympia-Premiere. Beide holten in der zweiten Hälfte des Rennens noch auf, aber letztlich waren die Platzierungen nicht so stark wie jene der deutschen Läuferinnen vor drei Jahren bei Olympia (6. Melat Kejeta, 18. Deborah Schönborn, 31. Katharina Steinruck). „Ich konnte nicht so viel aufholen wie ich gehofft hatte. Am Ende waren in meinem Bereich alle gleich schnell. Und wir sind dann so ins Ziel gerollt. Daher ist die Platzierung nicht so wie erwartet“, sagte Domenika Mayer. „Die Berge waren eine Herausforderung. Aber egal wie hart es war, ich wollte zufrieden ins Ziel laufen bei Olympia - deswegen habe ich auch gejubelt.“

„Ich bin mein eigenes Tempo gelaufen und habe mich dann ab Kilometer 15 bergauf nach vorne gearbeitet“, sagte Laura Hottenrott, die auch als Bergläuferin aktiv ist. „Ich bin dankbar, dass ich hier bei den Olympischen Spielen laufen konnte vor so einer tollen Kulisse. Ich habe viel gelernt für die Zukunft.“

Melat Kejeta gab das Rennen am ersten der zwei langen Anstiege nach gut 18 km auf. Vor drei Jahren beim Olympia-Marathon noch hervorragende Sechste, war sie in Paris offenbar nicht in Topform. Im Höhentraining in Addis Abeba hatte sie zeitweilig in der Olympia-Vorbereitung nicht wie gewohnt trainieren können. „Es hat viel geregnet, so dass ich dann nach St. Moritz gereist bin“, hatte Melat Kejeta vor den Spielen erklärt. In Normalform hätte sie in Paris vielleicht einen Platz unter den Top 15 erreichen können.

Top-Ergebnisse:
1. Sifan Hassan        NED    2:22:55
2. Tigst Assefa         ETH    2:22:58
3. Helen Obiri             KEN    2:23:10
4. Sharon Lokedi        KEN    2:23:14
5. Amane Beriso Shankule    ETH    2:23:57
6. Yuka Suzuki        JPN    2:24:02
7. Delvine Meringor         ROU    2:24:56
8. Stella Chesang        UGA    2:26:01
9. Lonah Salpeter         ISR    2:26:08
10. Eunice Chumba        BRN    2:26:10
11. Fatima Gardadi        MAR    2:26:30
12. Dakotah Lindwurm    USA    2:26:44
13. Jessica Stenson        AUS    2:26:45
14. Sardana Trofimova     KGZ    2:26:47
15. Peres Jepchirchir        KEN    2:26:51
16. Fabienne Schlumpf    SUI    2:28:10

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VCM News. Text: Jörg Wenig, Andreas Maier | www.race-news-service.com