Der Finne wurde als „Wunderläufer“, „Super-Phänomen“ oder „Fabeltier“ gefeiert!
Die Olympischen Spiele von Paris stehen vor der Tür. Von 26. Juli bis 11. August begeistert die Vielfalt des Sommersports ein Milliardenpublikum. Für Laufbegeisterte zählen die Leichtathletikbewerbe mit den Marathons zu den Höhepunkten. Die Frauen mit Österreichs Rekordhalterin Julia Mayer starten am Schlusstag der Spiele. Die Männer mit Superstar Eliud Kipchoge laufen bereits einen Tag davor, am Samstag, 10. August. Kipchoge könnte mit einem dritten Marathon-Olympiasieg Sportgeschichte schreiben. Man darf jedenfalls spekulieren.
Vor genau 100 Jahren hat Paavo Nurmi, eine Allzeit-Größe des Laufsports, bei den Spielen in Paris bereits Einzigartiges geschafft und fünf Olympia-Goldmedaillen gewonnen. Leichtathletik-Experte Olaf Brockmann schildert für die VCM News in einer packenden Story dieses wohl unwiederholbare Kunststück.
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Vor 100 Jahren in Paris: Paavo Nurmis Siegeszug zu fünf Goldenen
Als „Wunderläufer“, „Super-Phänomen“ oder „Fabeltier“ gefeiert!
Kein Sportler prägte die Olympischen Sommerspiele vor 100 Jahren in Paris so sehr wie Paavo Nurmi. Den Journalisten gingen in jenen vier Tagen, in denen der „fliegende Finne“ zu seinen fünf historischen Goldmedaillen lief, die Superlative niemals aus. Nurmi, der „große Schweiger“, wurde als „Wunderläufer“, „Super-Phänomen“, „der Übermensch“, „der beste Läufer der Welt“ oder als „Fabeltier“ gefeiert. Alles traf zu.
Seine Siegesserie eröffnete Paavo Nurmi am 10. Juli 1924 mit dem größten Double in der Geschichte der olympischen Leichtathletik. Binnen einer (!) Stunde gewann er in Colombes vor den Toren von Paris die 1500 m in 3:53,6 und die 5000 m in 14:31,2. Zwei Tage später lief er bei einer legendär gewordenen „Sonnenschlacht“ im Cross-Country zu zwei weiteren Siegen (Einzel und Team). Den Schlusspunkt setzte er am 13. Juli 1924 mit dem Sieg im 3000-m-Mannschaftslauf. Fünf Goldene bei denselben Olympischen Spielen sind in der Leichtathletik bis heute unerreicht. Ja, Paavo Nurmi war dieses Fabeltier…
Weltrekorde als Olympiatest
Aber selbst dieser Ausnahmeläufer hatte vor dem Double über 1500 m und 5000 m Respekt. Zur Sicherheit simulierte er dieses Doppel am 17. Juni 1924 in Helsinki und lief dabei über 1500 m in 3:52,6 und über 5000 m in 14:28,1 zwei Weltrekorde - als Test für Olympia. „So gewappnet begann sein Abenteuer in Paris, das gar keines mehr war“, fasste Ekkehard zur Megede in der deutschen „Leichtathletik“ zum Tode Paavo Nurmis 1973 zusammen.
Die Vorläufe über diese beiden Distanzen waren nur ein besseres Training für den Finnen. Er siegte in 4:07,6 und 15:28,6. Jetzt aber stand das große Double bevor. „25.000 Zuschauer hatten sich am 10. Juli 1924, dem Großkampftag allerersten Ranges“, in Colombes eingefunden, schilderte das „Illustrierte Wiener Extrablatt“. Alle wollten Nurmi sehen.
Mit der Stoppuhr in der Hand
Den Auftakt jener denkwürdigen Stunde bildeten die 1500 m. „Als er beim Starte Aufstellung nimmt, hat er seine Stoppuhr in der Hand, die Gegner sind für ihn unangenehm verdichtete Luft, er beschäftigt sich nur mit der Zeit“, schrieb das „Sport-Tagblatt“. Dr. Willy Meisl, Bruder des damaligen Fußball-Teamchefs Hugo Meisl, verdanken wir die packendsten Reportagen über den finnischen Ausnahmeläufer: „Nurmi ist kein Läufer mehr, kein Läufer, wie andere Läufer sind. Was mit ihm, um ihn und bald hinter ihm rennt, ist für ihn nicht Gegner, ist für ihn höchstens nur störend, weil er beim Überholen ausweichen muss, ist aber im Grunde nichts anderes für ihn als Luft, dicke Luft. … Die 1000 Meter werden in 2:32 passiert, und Nurmi bricht alle Brücken hinter sich ab, er wirft seine Uhr weg und läuft in die letzte Runde.“
„Wie ein gut geölter Motor“
Über die letzten 400 m heißt es: „Seine harte Miene zeigt keine Anstrengung, sein mächtiger Schritt zeigt keine Anspannung, er macht seinen Weg selbstverständlich wie ein Motor, der gut geölt, gespeist und gewartet ist. In der Zielgeraden hat er 20 Meter Vorsprung. Vorne hat Nurmi, der sich offenbar erinnert, dass er ja noch 5000 Meter vor sich hat, gebremst, und lächelnd, aber ohne sich anzustrengen, das Ziel passiert. Aber man sah, dass Nurmi 3:50 machen kann, wann er will.“
In allen Berichten aus Paris wird immer erwähnt, dass Paavo Nurmi mit seiner goldenen (!) Stoppuhr in der Hand lief. „Am Ende jeder Runde blickt er auf die Uhr und weiß, wie er weiter zu laufen hat, rascher oder langsamer, damit kein anderer Lebender ihm nahe zu kommen vermag“, so Willy Meisl, „Nurmi läuft nicht gegen Menschen, er läuft gegen das Unheimliche, Unsichtbare, gegen die schemenhafte Zeit, die er mit sich trägt in seiner rechten Hand. Wenn es einen Gegner für ihn gibt, so ist’s der Weltrekord.“
Erst Gummischuhe – dann Spikes
Über 1500 m war Nurmi noch in Gummischuhen gelaufen, „um seine Füße zu schonen“, wie es heißt. Vor dem 5000-m-Finale zog der Finne aber „statt der Gummischuhe die finnischen ‚Renner‘ mit den Spikes an“. Es wurde Ernst. Nurmi hatte seine Stoppuhr wieder aufgenommen und war bereit. Die Reporter standen im Banne dieses Endlaufs, in dem Paavo Nurmi, sein Landmann Vitola Ritola und der Schwede Edvin Wide lange gemeinsam vornweg liefen. Willy Meisl: „Es ist wunderbar, wie diese drei laufen, wunderbar und furchtbar zugleich. Mir zittern die Hände, als ich etwas notieren will, so hat mich das Schauspiel gepackt!“ Wide fiel bald zurück, vor der letzten Runde schloss Ritola noch einmal zu Nurmi auf. Nurmi sah bei der letzten Runde wiederholt auf seine Uhr. „In der Zielgeraden – die allgemeine Spannung und Teilnahme ist bis zur Explosionsgefahr gestiegen – setzt Nurmi mit seinem Spurt ein, er erhöht die Fahrt und siegt mit kaum einem Meter Abstand!“ Er gewann in der olympischen Rekordzeit von 14:31,2 vor Ritola (14:31,4) und Wide (15:01,8).
Nur Nurmi trotzte der Hölle
Dieses Double war der Beginn von Nurmis Pariser Siegeszuges. Zwei Tage später folgten seine beiden Goldmedaillen im Cross-Country-Lauf, ein Wettkampf, der als „Sonnenschlacht von Colombes“ eingegangen ist. Nur Paavo Nurmi trotzte dieser „Hölle“. Die „unerträgliche Hitze“, von der alle Reporter berichteten, verglich Ekkehard zur Megede mit afrikanischen Temperaturen. „Paris konnte man meinen, liegt am Äquator. Als verwechselte die Sonne die französische Hauptstadt mit der Wüste Sahara.“ Willy Meisl: „Paris dampfte, Paris glühte, Paris kochte. Es wurde gebraten im eigenen Schweiß. Die Häuser spien flammende Wärme, der Asphalt brannte, und unbarmherzig schoss die Sonne immer neue stechende Strahlen, unerbittlich wölbte sich über Paris und Umgebung ein glühend blauer Himmel, ohne Wolke, ohne Schatten.“ Laut dem „Rapport Officiel“ (Jeux de la VIIIME Olympiade Paris 1924: Rapport Officiel du Comité Olympique Français, Paris 1924) herrschten an jenem Tag 45 Grad in der Sonne und der Bewerb sollte in „tragische Ereignisse“ münden.
„Die Strecke glich einem Schlachtfeld“
Je nach Angaben erreichten 15 oder auch nur 11 der 40 gestarteten Läufer das Ziel im Stadion von Colombes. Mehr als die Hälfte erlitt einen Sonnenstich oder Hitzschläge, die Athleten hatten Erschöpfungszustände und wurden ohnmächtig. Betrachtet man die zahlreichen Fotos in den zeitgenössischen Publikationen, kann man sich von den extremen Schwierigkeiten auf der Strecke, den künstlichen und natürlichen Hindernissen ein gutes Bild von diesem Cross Country machen, für Mark Butler, den weltweit besten Leichtathletik-Statistiker, „einer der größten olympischen Langstreckenläufe“ überhaupt, für Willy Meisl „der tragischste Lauf, den die Sportgeschichte kennt“.
Im Stadion von Colombes, wo Start und Ziel des Rennens war, bekamen die Journalisten und Zuschauer zunächst kaum etwas von der Dramatik auf der Strecke mit. Dies wurde alles später erst bekannt. Willy Meisl: „Die Strecke glich einem Schlachtfeld. Die Sonnenpfeile hatten die Läufer hingemäht.“ In einem anderen Bericht hieß es: „Vierzig Läufer fürchteten nicht die Quälerei, provozierten den Sonnenball. Es kam, wie es kommen mußte. Sie fielen wie die Fliegen um. Die Sonnenglut war stärker. Der Wille erlähmte, die Beine verweigerten den Dienst, der Schädel brummte, das Blut in den Adern schien zu kochen. Einer nach dem anderen fiel aus, klappte zusammen wie ein Taschenmesser.“
„Heros der Langstreckenläufer“
Ab Kilometer 5,9 lag Paavo Nurmi vor Vitola Ritola und baute seinen Vorsprung Schritt für Schritt weiter aus. Im Ziel lag er gewaltige 500 m vor seinem Landsmann. Auf der Stadiontribüne hatte es lange keine Meldung mehr von der Strecke gegeben. „Aber plötzlich war Nurmi da“, so Willy Meisl, „dieses Supra-Phänomen, dieser Übermensch lief ein, in seinem sicheren Stil, verschwitzt am Körper, aber ruhig und unberührt, als ob dieses Rennen keine Sonderleistung gewesen wäre. Nurmi, der Heros der Langstreckenläufer. Ritola, matt, wie man diesen Laufasketen noch nie gesehen.“ Nach dieser „Sonnenschlacht von Colombes“ erfand Willy Meisl den nicht mehr zu überbietenden Superlativ für Paavo Nurmi: „Er ist zweifellos der größte Läufer aller Zeiten vom Stranden der Arche Noah an bis auf den heutigen Tag.“
Die Dramatik erlebten die Zuschauer, als weitere Läufer ins Stadion einliefen bzw. hineintorkelten. Es spielten sich, wie alle schrieben, „Schreckensszenen“ ab. Die Berichte erinnern an den Einlauf des Frauen-Marathons von Los Angeles 1984. Nurmi hatte sein Einzel-Gold zwar bereits sicher, musste aber um den Sieg im Teambewerb bangen. Neben ihm und Ritola fehlte noch der dritte Finne im Ziel für die Mannschaftswertung. Es sollte Jani Liimatainen werden. Aber auch er ein Opfer der Hitze-Hölle. Er schleppte sich mit aller Gewalt ins Ziel. Er benötigte für die letzten 100 m mehr als zwei Minuten. Finnland aber hatte ein Team im Ziel. Das zweite Nurmi-Gold an diesem Tag war perfekt, sein bereits viertes bei diesen Spielen. Das fünfte folgte tags darauf.
Sieben Siege an sechs Tagen
Am 13. Juli 1924 stand das 3000-m-Mannschaftslaufen im Stadion von Colombes auf dem Programm. Paavo Nurmi gewann die Einzelwertung (für die es jedoch keine eigene Medaille gab) überlegen in 8:32,0 Minuten und führte damit das finnische Dreier-Team (Nurmi, Ritola, Katz) zum Sieg. Nurmis Mission war vollbracht. Inklusive seiner Vorläufe bestritt er an sechs Tagen vom 8. bis 13. Juli sieben Rennen - jeweils als Sieger.
08.07.1924 5000 m (1h2) 15:28,6
09.07.1924 1500 m (1h3) 4:07,6
10.07.1924 1500 m (1) 3:53,6
10.07.1924 5000 m (1) 14:31,2
11.07.1924: 3000 m Team Race (1h1) 8:47,8
12.07.1924: 10,7 km Cross Country (1) 32,54,8 + (1) im Team
13.07.1924: 3000 m Team Race (1) 8:32,0
„In einer Pensonistenzeit“
Das Vorspiel zu seinem letzten Pariser Gold konnte Paavo Nurmi sehr gemächlich angehen. Da sprach das „Sport-Tagblatt“ am 11. Juli, als der Vorlauf im 3000-m-Mannschaftslaufen auf dem Programm stand, schon von einem „Ruhetag“ für das finnische Phänomen. Nurmi lief, wie es hieß, siegte in „der Pensionistenzeit von 8:47,8, die er schon um zwanzig Sekunden unterboten hat“.
Das Finale wurde zur letzten großen Machtdemonstration Paavo Nurmis. Ekkehard zur Megede zog den Vergleich zu Hannes Kolehmainen. „So wie dieser 1912 in Stockholm, so beherrschte Nurmi 1924 in Paris den 3000-m-Mannschaftslauf.“ Nurmi gewann, „ohne sich voll auszugeben mit 70 m Vorsprung vor Ritola“ (Schweizer Olympiabuch 1924) und lief mit 8:32,0 einen weiteren olympischen Rekord.
„Der läuft wie Nurmi!“
Paavo Nurmi war 1924 auf dem Höhepunkt seiner einmaligen Karriere. Schon in Antwerpen 1920 hatte er drei Goldene gewonnen (10.000 m sowie Einzel und Team im Cross-Country-Lauf), 1928 folgte noch ein Olympiasieg über 10.000 m. Zu diesen neun Goldenen kamen drei Silber-Medaillen. Seine 29 offiziellen und inoffiziellen Weltrekorde, ausgezeichnet von Ekkehard zur Megede dokumentiert und kommentiert, und seine Olympiasiege gründeten seinen unermesslichen Ruhm. Noch heute ist er der Allgemeinheit als „finnischer Wunderläufer“ ein Begriff. Sein Name wurde zu einem geflügelten Wort: „Der läuft wie Nurmi!“
Nurmis Goldene wieder in Paris
Erstmals nach 100 Jahren – pünktlich zu den Spielen 2024 - sind Paavo Nurmis fünf Goldmedaillen nach Paris zurückgekehrt. Sie bilden vom 24. Juli bis zum 11. August das Herzstück einer Ausstellung im „Museé de la Monnaie de Paris“. Hinzu kommen grandiose Erinnerungsstücke aus der „Olympic Athletics Collection“ des „Museums of World Athletics“. Bei dieser Ausstellung gibt es einen besonderen Aspekt zu den Nurmi-Goldenen. Alle Olympia-Medaillen von 1924 wurden von der „Monnaie de Paris“ geprägt. Hier schließt sich nach 100 Jahren der Kreis.
VCM News | Text © Olaf Brockmann