Eliud Kipchoge ist nicht mehr der Weltrekordhalter. Dass der Kenianer noch vor den Olympischen Spielen seine dominante Stellung verlor, war die überraschende Entwicklung des Jahres im internationalen Männer-Marathon. Kelvin Kiptum stürmte in Chicago zur neuen Weltrekordzeit von 2:00:35 Stunden. Selbst die Zwei-Stunden-Barriere scheint für den neuen Lauf-Star in einem rekord-konformen Rennen erreichbar zu sein. Beim Rotterdam Marathon am 14. April will der Kenianer es versuchen.
Warum so schnell?
Nicht nur in der absoluten Spitze, sondern auch in der Breite setzte sich die enorme Entwicklung der letzten Jahre fort. Seitdem alle Athleten auf die Carbon-Laufschuhe Zugriff haben, fallen reihenweise persönliche Bestzeiten und Rekorde. Teilweise gibt es weiterhin Verbesserungen von mehreren Minuten. Alleine die Schuhtechnologie kann die Entwicklung jedoch nicht erklären. Professionalisierung in vielen Bereichen, Teamwork, Ernährung und das Durchbrechen mentaler Barrieren spielen eine Rolle. Auch Doping – die lange Liste gesperrter Athlet*innen u.a. aus Kenia spricht eine klare Sprache. Man kann gespannt sein, welche Wirkung die 2023 von den kenianischen Behörden angekündigte 5-Jahres-Investition von 25 Millionen Dollar für den Aufbau eines Doping-Kontollsystems im Land haben wird.
Eliud, der Ausnahmeläufer
Aufgrund seiner einmaligen Erfolge über viele Jahre hinweg, bleibt Eliud Kipchoge eine Ausnahmeerscheinung und wohl der größte Marathonläufer aller Zeiten. Doch der zweifache Olympiasieger, der in Wien 2019 in einem nicht rekord-konformen Rennen eine Zeit von 1:59:40,2 Stunden erreicht hatte, war 2023 nicht mehr die Nummer eins. In Boston im Frühjahr auf der hügeligen Strecke geschlagen, meldete sich der inzwischen 39-Jährige zwar in Berlin mit einem weiteren spektakulären Sieg in 2:02:42 zurück, doch Kelvin Kiptum lief zweimal schneller.
Kelvin, der Weltrekordler
Der erst 24-Jährige steigerte sich zunächst bei seinem Sieg in London auf 2:01:25 (er brach damit Kipchoges Streckenrekord) und pulverisierte dann in Chicago den Weltrekord von Kipchoge (2:01:09) mit einer Zeit von 2:00:35. Damit schob sich Kelvin Kiptum in die Position des Favoriten für den Olympia-Marathon im Sommer in Paris. Allerdings ist der Kenianer bisher ausschließlich auf flachen Strecken gelaufen, so dass abzuwarten bleibt, wie er sich auf dem teilweise hügeligen Olympia-Kurs und im direkten Aufeinandertreffen mit Kipchoge und anderen Stars schlägt.
Bestzeiten ohne Ende
Auch hinter dem kenianischen Ausnahme-Duo gab es viele außergewöhnliche Zeiten. So wurde der ehemalige VCM-Sieger Sisay Lemma bei seinem überraschenden Sieg in Valencia zum viertschnellsten Läufer aller Zeiten. Der Äthiopier steigerte sich in Spanien auf 2:01:48. Insgesamt fünf der 20 schnellsten je gelaufenen Zeiten stammen aus dem Jahr 2023. Und in der Liste der 25 schnellsten Marathonläufer aller Zeiten finden sich sieben Athleten, die ihre Bestzeiten im vergangenen Jahr erzielt haben. Ähnlich ist es, wenn man etwas tiefer in diese Liste schaut: Von den 100 schnellsten Läufern in der Alltime-Liste erzielten 21 im Jahr 2023 ihre schnellste Zeit.
Dürres Jahr für Österreichs Top-Marathonläufer
Im österreichischen Laufsport sorgte Mario Bauernfeind für eine doppelte Überraschung. Erstens, dass er in Frankfurt bei widrigen Bedingungen eine starke persönliche Bestzeit von 2:12:49 Stunden erzielen konnte. Zweitens, dass er mit dieser Marke der schnellste heimische Läufer des zurückliegenden Jahres war. Andreas Vojta schaffte es als einziger weiterer Athlet unter die Marke von 2:20 Stunden. Mit 2:13:43 Stunden hat er ebenfalls in Frankfurt einen wichtigen Schritt in seiner Marathonlaufbahn gesetzt, nachdem er beim VCM in 2:19:27 sein Potenzial nicht annähernd zeigen konnte.
Die weiteren Top-Läufer blieben ohne gute Marathonresultate. ÖLV-Rekordhalter Peter Herzog (2:10:06) hatte mit Verletzungen und Krankheiten zu kämpfen. Obendrein wurde er als Heeressportler recht unvermittelt verabschiedet und musste sich beruflich neu orientieren. Mit Halbmarathons in 63:10 in Sevilla und in 63:47 bei der Straßenlauf-WM in Riga hat er gezeigt, was er auch mit limitierter Vorbereitung zu leisten im Stande ist. Lemawork Ketema kam verletzungsbedingt nicht in Bestform; auch der Tod seiner Mutter in Äthiopien hatte ihm persönlich zu schaffen gemacht.
Olympiamarathon – noch Chancen für Österreich?
Für 2024 darf man bei allen auf gute Marathons hoffen. Die Motivation dafür ist jedenfalls vorhanden. Eine Olympiateilnahme in Paris wird für Österreichs Marathon-Asse hingegen schwierig. Die Qualifikation ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nur über das Erbringen des direkten Limits von 2:08:10 Stunden zu schaffen. Aktuell haben bereits 63 Athleten weltweit diesen Standard erbracht, wenn nur die Top-3 jedes Landes gezählt werden. Insgesamt sind 80 Marathon-Startplätze für Paris zu vergeben. Ende Jänner werden von World Athletics bereits die besten 64 Läufer (max. drei pro Land) auf den Status „qualifiziert“ gesetzt. Bleiben noch 16 Plätze für Läufer übrig, die derzeit ohne Limit sind und auf eine Teilnahme über die Weltrangliste hoffen. Der Weg nach Paris wird sehr schmal und dürfte wohl nur mit einer Zeit unter der Marke von 2:08:10 gangbar sein. – ÖLV-Rekordlerin Julia Mayer hat mit ihren 2:26:43 von Valencia das Olympiaticket hingegen bereits fix. Über die Frauenleistungen folgt eine eigene Story.
Deutschland mit Luxusproblem
Beim Nachbarn Deutschland erlebt der Marathon einen beachtlichen Aufschwung an der Spitze.
In der Liste der zehn schnellsten deutschen Athleten aller Zeiten fanden sich Ende 2023 gleich sechs Ergebnisse aus diesem Jahr! Die Nummer eins war mit einigem Abstand Amanal Petros (SCC Berlin), der die beiden schnellsten Zeiten des Jahres erzielte: Zunächst gewann er den Hannover-Marathon in 2:07:02, dann lief er in Berlin in die europäische Spitze mit einer famosen Steigerung seines deutschen Rekordes auf 2:04:58. Damit wurde Amanal Petros zum viertschnellsten Europäer aller Zeiten über die 42,195 km.
Ebenfalls zwei Zeiten von unter 2:10 Stunden liefen Richard Ringer (LC Rehlingen) und Haftom Welday (Hamburger Laufladen): Der Europameister Ringer steigerte sich in Hamburg zunächst auf 2:08:08 und dann in Valencia auf 2:07:05. Welday lief in Hamburg 2:09:40 und dann ebenfalls in Valencia 2:08:24. Filimon Abraham (LG Telis Finanz Regensburg/2:08:22 in Barcelona), Samuel Fitwi (Silvesterlauf Trier/2:08:28 in Berlin), Hendrik Pfeiffer (TK Hannover/2:08:48 in Berlin) und Simon Boch (LG Telis Finanz Regensburg/2:09:25 in Linz) erzielten ebenfalls und zudem erstmals Ergebnisse von unter 2:10:00. Sebastian Hendel (LG Braunschweig/2:10:14 in München) hätte dies ebenfalls erreichen können, doch er hatte Pech aufgrund einer Fehlleitung.
2:07:14 von Pfeiffer nicht genug für Olympia
Sieben deutsche Athleten erreichten somit 2023 Zeiten von unter 2:10:00. Zuvor waren es nie mehr als zwei in einem Jahr! In diesem „Tempo“ begann auch schon das neue Jahr: Samuel Fitwi und Hendrik Pfeiffer liefen mit 2:06:27 beziehungsweise 2:07:14 wiederum deutliche Bestzeiten. Die 2:07:14 von Pfeiffer beim Houston Marathon reichen nicht einmal zur Olympiateilnahme, weil er damit der viertschnellste Deutsche im Qualifikationszeitraum ist und jedes Land nur maximal drei Teilnehmer stellen darf.
Die schnellsten Läufer aller Zeiten
2:00:35 Kelvin Kiptum KEN Chicago 8.10.2023
2:01:09 Eliud Kipchoge* KEN Berlin 25.9.2022
2:01:41 Kenenisa Bekele ETH Berlin 29.9.2019
2:01:48 Sisay Lemma ETH Valencia 3.12.2023
2:02:48 Birhanu Legese ETH Berlin 29.9.2019
2:02:55 Mosinet Geremew ETH London 28.4.2019
2:02:57 Dennis Kimetto KEN Berlin 28.9.2014
2:02:57 Titus Ekiru KEN Mailand 16.5.2021
2:03:00 Evans Chebet KEN Valencia 6.12.2020
2:03:00 Gabriel Geay TAN Valencia 4.12.2022
* 1:59:40,2 Eliud Kipchoge KEN Wien 12.10.2019
Die schnellsten Läufer 2023
2:00:35 Kelvin Kiptum KEN Chicago 8.10.
2:01:48 Sisay Lemma ETH Valencia 3.12.
2:02:42 Eliud Kipchoge KEN Berlin 24.9.
2:03:11 Alexander Munyao KEN Valencia 3.12.
2:03:13 Vincent Ngetich KEN Berlin 24.9.
2:03:24 Tadese Takele ETH Berlin 24.9.
2:03:47 Bashir Abdi BEL Rotterdam 16.4.
2:03:48 Dawit Wolde ETH Valencia 3.12.
2:03:50 Timothy Kiplagat KEN Rotterdam 16.4.
2:04:02 Benson Kipruto KEN Chicago 8.10.
2:04:09 Bernard Koech KEN Hamburg 23.4.
2:04:18 Joshua Belet KEN Amsterdam 15.10.
2:04:19 Kenenisa Bekele ETH Valencia 3.12.
2:04:22 Ronald Korir KEN Berlin 24.9.
2:04:23 Geoffrey Kamworor KEN London 23.4.
VCM News / Text: Jörg Wenig / Race News Service – Red. AM